Der Historiker und ehemalige Studienleiter Prof. Dr. Jörg Calließ ist am 25. November 2025 in Loccum nach längerer Krankheit verstorben. Der 84-jährige prägte von 1979 bis 2006 nicht nur seinen Arbeitsbereich für Internationale Politik & Internationale Beziehungen. Sein Engagement in der Friedenspolitik und für die Akademie ging weit darüber hinaus. Studienleiterin Andrea Grimm, die selbst viele Jahre mit ihm zusammenarbeitete, verfasste für die Akademie diesen Nachruf:
„Weißt Du, wie das wird?“
Seine letzte Tagung, die er an der Evangelischen Akademie Loccum verantwortet hat, hat Jörg Calließ mit Motiven aus der Götterdämmerung eingeleitet und verwoben. Er ließ das Vorspiel der Wagner-Oper erklingen, in dem die drei Nornen am Schicksalsseil weben. Das reißt dann bekanntlich, worauf die Nornen wehklagen – „Zu End‘ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr“ – und zur Erdmutter entschwinden. Ein starkes Vorspiel in der Oper und ein fulminanter Start in die Tagung, mit der Jörg Calließ zum letzten Mal als Studienleiter die Frage stellte, wie wir die Zukunft offenhalten können, und auf welche Ressourcen zurückgegriffen werden kann, um in einer Welt des Umbruchs Frieden zu stiften und das Recht zur Grundlage politischen Handelns zu machen. Immer sprach er, der unermüdlich mitwebte an einer Infrastruktur für die zivile Konfliktbearbeitung und die Friedensarbeit, davon, dass es den Frieden zu stiften gelte. Erzwingen kann den Frieden keiner. Es bedarf vieler Prozesse auf nationaler und internationaler Ebene, Überzeugungen, guter Politik und moralischer Orientierung, damit die Gewalt, die die Menschheitsgeschichte durchzieht, überwunden werden kann. Dass die Gewalt immer mitzudenken ist, hat er, der als Historiker so beeindruckend reich an Wissen war, uns Loccumer Kollegen und Kolleginnen in vielen Debatten aufgezeigt. Zu wissen, wie die Dinge geworden sind, wie sie sind, war ihm Orientierung auf dem Weg, neue Ordnungen wachsen zu lassen. Jede Tagung hat er mit Leidenschaft für seine Themen, als Brückenbauer zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft und mit Charisma als Tagungsleiter zu einem Erlebnis gemacht. Es gibt nahezu von jeder dieser Tagungen ein Loccumer Protokoll, und seine eindrucksvolle Publikationsliste, die neben den Loccumer Protokollen so viele Veröffentlichungen in wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kontexten enthält, zeigt den klugen und optimistischen Streiter für Verständigung und Menschlichkeit. Als Historiker hat er neben seiner Arbeit als Studienleiter in Loccum an der TU Braunschweig unterrichtet, die ihn mit der Verleihung einer Honorarprofessur würdigte.
1998 war er einer der Mitbegründer der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. In diesen Zusammenschluss von Akteuren der Friedensarbeit in und außerhalb von Kirche setzte er die große Hoffnung, durch zivile Instrumente, präventive und vorausschauende Maßnahmen Gewaltkonflikte einhegen und transformieren zu können. Wie viele andere Menschen in der Friedensarbeit hat auch ihn der russische Angriffskrieg auf die Ukraine fassungslos gemacht.
Jörg Calließ war ein Menschenfreund und liebte es, unter Menschen zu sein. Er pflegte mit Aufmerksamkeit die vielen Freundschaften, die sein Leben reich machten. Er war seinen Studierenden zugewandt und ein guter Ratgeber. Sein aufrichtiges Interesse an dem, was die Jüngeren zu sagen haben, ging in die Konzeption vieler seiner Tagungen ein. Dass er, der gerne erzählte und viel zu sagen hatte, auch gut zuhören konnte, machte ihn als Kollegen und Freund aus.
Den Frieden suchte er nicht nur im politischen Raum. Seine große, in frühester Jugend entfachte Leidenschaft galt der Oper. Glücklich, wer sie mit ihm teilen durfte – bei Opernbesuchen und im privaten Raum. Er war nicht einfach nur empfindsamer Zuhörer, sondern verstand viel von Musik. Und doch: Das Transzendente im musikalischen Kunstwerk war es, was ihn erfüllte. Er wusste, dass das menschliche Handeln Ermutigung durch die utopischen Momente braucht. Er fand viele davon in der Musik. „Die Momente des Friedens in der Oper“, so schrieb er in einem Aufsatz zum ‚hörbaren Frieden‘, „erreichen das Gefühl, die Seele der Menschen. In ihnen liegt die Kraft, die Menschen und Wirklichkeiten verwandeln kann“.
Jörg Calließ hat die Akademiearbeit maßgeblich geprägt und uns Kollegen bei seinem Abschied ermahnt, stetig hoch zu greifen. Alle, die ihn begleitet haben, sind auch immer ein bisschen von ihm verwandelt worden.
„Weißt Du, wie das wird?“ Wir können es nicht wissen. Aber wir können darauf vertrauen, dass wir in Gottes Gnade stehen. In diesem Sinne nehmen wir voller Dankbarkeit für sein Wirken Abschied von Jörg Calließ. Wir werden ihn nicht vergessen.
Im Namen des gesamten Kollegiums
Andrea Grimm