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Luhmanns kleine Sensation in Loccum

2. Folge der Anekdoten-Serie zur Geschichte der Akademie anlässlich ihres 80jährigen Jubiläums im Jahr 2026

Analoge Bibliotheken und Archive gelten in heutigen Zeiten zuweilen als überholt. Bibliothekare wissen es besser. Im Jahr 2021 bewies unsere Bibliothekarin Britta Papenhausen, wie bedeutsam ein gut geführtes analoges Archiv auch heute noch für Wissenschaft und Zeithistorie sein kann. Im Zusammenhang mit einem Editionsprojekt zu den Werken von Niklas Luhmann, dem neben Habermas wohl wichtigsten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts, erhielt sie eine Anfrage des Springer-Wissenschaftsverlages zu einem Vortrag, den Luhmann bei uns gehalten hatte. Es ginge thematisch um die „Organisierbarkeit von Religion und Kirche“. Britta Papenhausen recherchierte und fand eine bislang unbekannte Vortragsfassung des Essays mit vielen wertvollen Hinweisen und Erläuterungen von Luhmann, die der Verlag als „kleine Sensation“ bezeichnete.

Ernst Lukas, der Herausgeber der Schriften Luhmanns, schrieb: „Mit Hilfe dieser Vortragsfassung wäre sicher manches klarer geworden. Es handelt sich um eine wörtliche Mitschrift eines Vortrags auf der Akademie-Tagung „Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts“, die vom 12. bis 14. Juni 1974 stattfand. Der Kreis der Referenten war hochkarätig besetzt (Landesbischof Eduard Lohse, der Kirchenrechtler Axel Frhr. von Campenhausen, prominente Vertreter aus Justiz, Parteien und Gewerkschaften). Luhmann – ganz im Gegensatz zu seinem oft spröden Schreibstil ein geistreicher und unterhaltsamer Vortragsredner – variiert hier Gedanken seines Textes von 1972 auf gut verständliche Weise. Im Nachlass Luhmanns sind zahlreiche Vortragsmanuskripte erhalten, leider meist nur skizzenhaft ausgeführt. Der Loccumer Text von 1974 gehört zu den wenigen vollständigen Wortprotokollen. In der neuen Buchausgabe ist er ein besonderes Highlight.“

Wie bedeutsam ist diese Entdeckung? hakte unsere Öffentlichkeitsarbeit daraufhin nach. Die Antwort Ernst Lukas‘:

„Als die Evangelische Kirche Ende der 1960er Jahre angesichts spürbarer krisenhafter Entwicklungen erste Ansätze zu einer Reform der kirchlichen Strukturen unternahm und nach einem geeigneten Organisationsexperten suchte, stieß die zu diesem Zweck gegrün-dete Arbeitsgruppe (darunter Yorick Spiegel, Karl-Fritz-Daiber, Karl Wilhelm Dahm und der spätere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber) schnell auf Luhmann. Er nahm seit 1969 regelmäßig an den Sitzungen teil – oft in Begleitung seiner Frau. Tagungsort war vor allem die Akademie Loccum, gelegentlich auch Hofgeismar und Bad Boll.

Kirchen sind Vieles, auch Organisationen. Aber dieses Wort hört man dort nicht gern. Organisation, das klingt nach Bürokratie, nach Hierarchie, als etwas, das dem Geist des kirchlichen Lebens widerspricht. Hat nicht gerade die evangelische Kirche von Beginn an in Opposition zum allem gestanden, was sich mit diesen Begriffen verbindet? Und doch gibt es Dinge, die „organisiert“ werden müssen. Gemeindearbeit und soziale Dienste müssen finanziert, Pfarrer und andere hauptamtlich Tätige besoldet, Gebäude unterhalten werden. Kirchliche Arbeit unterliegt immer komplizierter und umfassender wer-denden rechtlichen Regelungen, deren Einhaltung sichergestellt werden muss und vieles mehr.

Entstehen hieraus Konflikte mit dem eigentlichen Auftrag der Kirche und wenn ja, wie sind diese zu lösen? Theologen weichen – hier durchaus Luther folgend – dieser Frage gern aus. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die evangelische Kirche in Deutschland vielerorts keine eigene Verwaltung d.h. sie hat es staatlichen Stellen wie z.B. den Innen- oder Kulturministerien der Länder überlassen, diese Dinge für sie zu erledigen.

Auch andere Wissenschaften, die hier vielleicht zuständig wären, wie Rechts-, Wirtschafts-, Politik- oder Sozialwissenschaften gehen diesem „heißen Eisen“ gern aus dem Weg. Bis auf eine große Ausnahme: Niklas Luhmann (1927-1998). (…) [Er] hat sich als einer der ganz Wenigen sehr ausführlich mit der Frage der kirchlichen Organisation beschäftigt. Seine Texte dazu sind weltweit einzigartig. Sie waren bisher weit verstreut und liegen jetzt vollständig in einer neuen Ausgabe seiner „Schriften zur Organisation“ vor.“

Im Band 5 findet sich auch der besagte Vortrag aus Loccum. Hier kann das Buch beim Verlag bestellt werden.

Bild oben im Kopf: Niklas Luhmann. Credits:

Von Universitätsarchiv St.Gallen | HSGH 022/000941 | CC-BY-SA 4.0