Editorial zur Druckausgabe des Halbjahresprogramms 1-2023
Liebe Freundinnen und Freunde der Evangelischen Akademie Loccum,
zum neuen Jahr legen wir hoffnungsvoll ein neues Halbjahresprogramm in Ihre Hände. Nicht obwohl, sondern gerade weil die bevorstehende Jahreswende wohl weniger von Hoffnungen als vielmehr von Skepsis begleitet sein wird. Zuviel ist offen: Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist auch unserer Gesellschaft ihre Verletzlichkeit neu bewusst geworden. Vertraute Sicherheiten sind ins Wanken geraten. Die Polykrise stellt unser Vertrauen in freiheitlich-demokratische Grundwerte auf eine ebenso harte Probe wie die christliche Zuversicht, Gott werde die Weltgeschichte zum Guten leiten. Manche mag die Frage umtreiben, die bereits Nietzsche seinem „tollen Menschen“ in den Mund legte – ob nicht die Menschheit fortwährend nach allen Seiten hinstürzt „wie durch ein unendliches Nichts“. Und der deshalb am helllichten Tag mit einer Laterne auf den Marktplatz läuft und seine Zuhörenden mit dem Satz konfrontiert: „Ich suche Gott!“
Die Suche nach Gott bleibt Theologie und Kirche aufgegeben, gerade angesichts der sich aktuell verschränkenden Krisen. Sie zieht sich auch durch das neue Akademieprogramm, mal ausgesprochen, mal indirekt: Explizit in der Frage nach den notwendigen Veränderungen, die Kirche derzeit durchläuft und die sich aktuell im Zukunftsprozess der Landeskirche Hannovers bündeln, wie etwa die Suche nach jugendgerechten Ausdrucksformen und Strukturen, nach einer engeren Zusammenarbeit von Kirchengemeinde und Diakonie im Quartier und nicht zuletzt in einer kritischen Sichtung christlicher Glaubenstraditionen.
Indirekt steckt die Suche nach Gott ebenso in den zahlreichen Tagungen zu ethischen Themen: Zur Friedensethik angesichts einer neuen nationalen Sicherheitsstrategie, zur Sozialethik angesichts wachsender Ungleichheit im Bildungssystem und unzureichender psychologischer und psychiatrischer Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Zur Umweltethik angesichts der sich überlappenden Krisen, die aus der Verschränkung von Klimawandel, unsicher gewordener Nahrungsmittelversorgung und der Sorge um die Biodiversität erwachsen. Schließlich stellt auch die kulturelle und religiöse Diversifizierung der Gesellschaft grundlegende ethische Fragen nach der gleichen Menschenwürde, die allen ohne Ansehen gebührt und die politisch verwirklicht werden muss.
„O große Not, Gott selbst ist tot!“ dichtete Johann Rist rund 240 Jahre, bevor Nietzsche seinem tollen Menschen den Ausruf: „Gott ist tot!“ in den Mund legte. Inmitten des Halbjahres, das das vorliegende Programm umfasst, liegt die Passionszeit. Sie lädt uns ein, menschliche Verletzlichkeit, Gewalttätigkeit und Schuld ebenso zu reflektieren wie die Vergänglichkeit der gesamten Schöpfung. Christliche Hoffnung erwächst – unverhofft! – aus dem unverfügbaren Ostergeschehen. Dass sie inmitten aller krisenhaften Erfahrungen unser Denken und Handeln inspiriert, ist mein Wunsch in diesen kommenden Monaten!
Mit allen Mitwirkenden der Akademie freue ich mich auf zahlreiche Begegnungen und grüße Sie herzlich,
Ihre
PD Dr. Verena Grüter, Akademiedirektorin
Das aktuelle Halbjahresprogramm 1-2023 als PDF
Das Halbjahresprogramm 2-2022 als PDF