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Die Welt(un)ordnung nach der Corona-Krise: 5 Thesen

Ein Beitrag von Studienleiter Thomas Müller-Färber

Alte Gewissheiten werden derzeit durch die COVID-19-Krise reihenweise über den Haufen geworfen. Gilt das auch für die internationale Politik? Welche Folgen hat die Corona-Krise für die Weltordnung und die globalen Machtbeziehungen? Diese Frage ist auch für die Evangelische Akademie Loccum nicht unerheblich. Schließlich haben die großen Weltläufe einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Veranstaltungsformate und Tagungsthemen wir in der Zukunft bearbeiten werden.

An Deutungsangeboten zu der Post-Corona Weltordnung gibt es derzeit keinen Mangel. In ähnlicher Rasanz, mit der sich der Virus weltweit ausgebreitet hat, wurden in den letzten Wochen zahlreiche Einschätzungen zu den weltpolitischen Konsequenzen von COVID-19 veröffentlicht. Der Grundtenor der meisten Analysen ähnelt sich sehr. Ganz überwiegend werden tiefgreifende strukturelle Veränderungen in den internationalen Beziehungen erwartet. Vorwiegend wird von einer Zunahme an Dynamik ausgegangen. Die Welt nach Corona werde nicht mehr so sein wie zuvor – so die gängige Meinung.

Betrachtet man diese einzelnen Analysen genauer und durchleuchtet die verschiedenen Einflussfaktoren zu den postulierten Szenarien entsteht allerdings ein differenziertes, wenn auch weniger eindeutiges Bild zu den zukünftigen weltpolitischen Entwicklungen, das von dieser alles-wird-anders Perspektive abweicht. Mindestens fünf Thesen lassen sich formulieren.

Erstens wird die Corona-Krise zu weniger und nicht zu mehr Krieg und militärischer Konfrontation führen. In den letzten Jahren haben wir eine Renaissance der Geopolitik erlebt. Staaten rüsteten auf, Krisendiplomatie versagte zunehmend, die Anzahl der Kriege – ob in Syrien, Jemen oder in der Ukraine – nahm deutlich zu. Das Virus wird diesen Trend – zumindest vorübergehend – stoppen. Gewaltsame Konflikte wird es auch weiterhin geben, aber die Intensität des Kriegsgeschehens wird sinken. Kurz- und mittelfristig wird es weniger militärische Abenteuer und Rüstungsanstrengungen geben – schlicht, weil das Geld für diese Ambitionen fehlt. Erste Anzeichen für diese De-eskalation aufgrund von wirtschaftlicher Erschöpfung sehen wir aktuell bereits in Libyen, Syrien und Jemen. Ja, COVID-19 wird zu einer massiven ökonomischen Krise führen, die Armut, Verelendung, Hunger und Flucht zur Folge haben wird. Aber dies bedeutet nicht notwendigerweise mehr Krieg und vor allem keine Fortführung der aktuellen geopolitischen Renaissance. Kriege führen immer zu Armut, aber ob Armut immer zu Krieg führt, ist auch in der Forschung umstritten. In der Regel sind es nicht die Ärmsten, die zur Waffe greifen. Denn auch dafür braucht man Ressourcen. Konkret wird dieser zumindest vorübergehende Gewaltrückgang vor allem dadurch begründet sein, dass jene Staaten, die in den letzten Jahren sich im globalen Kriegsgeschehen besonders involviert haben – beispielsweise Saudi-Arabien, Iran oder Russland – ihre militärischen Ambitionen im hohen Maße durch Öl- und Gasexporte finanziert haben. Hier sind die Preise aber erst mal im Keller.

Zweitens werden wir keinen beschleunigten Aufstieg Chinas zur führenden Weltmacht erleben – auch wenn das viele Analysten als das wichtigste Resultat der gegenwärtigen Corona-Krise erachten. China gewinnt weltweit immer mehr an Einfluss. Aber diese Entwicklung ist nicht neu und hat durch die COVID-19-Pandemie nicht nennenswert an Rasanz gewonnen. Egal ob in puncto Wirtschaftsleistung, militärische Stärke oder diplomatischen Einfluss – nüchtern betrachtet hat sich an der relativen Verteilung von Machtressourcen zwischen den USA und China in den vergangenen Monaten kaum etwas geändert. Zugegebenermaßen unter Trump gerieren sich die USA, die durch den Aufstieg Chinas besonders herausgefordert werden, in der derzeitigen Krise nicht als verantwortungsvolle Führungsmacht. Aber auch das ist nichts Neues. Neu hingegen ist der atmosphärische Eindruck, dass es China in den letzten Wochen geglückt ist, sich weltweit als durchsetzungsstarker Problemlöser darzustellen. Insbesondere mit Blick auf die ungeklärten Fragen zum Ausbruch der Pandemie und der Verbreitung des Virus in der Frühphase der Krise, ist es derzeit jedoch nicht ausgemacht, ob es Peking auf Dauer wirklich gelingen wird, dieses Image aufrechtzuerhalten.

Drittens werden wir ein (Wieder)Erstarken von Regionalkooperationen sehen. Ja, momentan erleben wir die Corona-Pandemie als eine Zeit die vorwiegend geprägt ist durch das Handeln einzelner Nationalstaaten. Das wird aber auf Dauer nicht so bleiben. Denn für die Bekämpfung der Krise und insbesondere ihrer schwerwiegenden sozio-ökonomischen Folgen ist der nationale Handlungsrahmen deutlich zu klein. Von ein paar notwendigen Arrangements im Bereich der Gesundheitspolitik einmal abgesehen, werden sich die Blicke auf der Suche nach einem geeigneten Format zur Entwicklung und Durchsetzung politischer Lösungen aber vermutlich nicht auf die globale Ebene richten. Vielmehr werden weltweit regionale Kooperationen an Bedeutung gewinnen – hier in Europa beispielsweise die viel gescholtene Europäische Union. Zum einen wird das Aufleben regionaler Zusammenarbeit damit zu tun haben, dass weltweite Mechanismen schon seit längerer Zeit erodieren und der Multilateralismus sich bereits seit einiger Zeit in der Krise befindet. Besonders augenscheinlich wurde das in den vergangenen Jahren durch die notorische Blockade des UN-Sicherheitsrats aufgrund anhaltender Vetopolitik. Das Ausscheiden der globalen Dimension als Lösungsrahmen unterscheidet die aktuelle Pandemie beispielsweise deutlich von der Situation der Finanzkrise von 2007-2008, bei der der Multilateralismus noch deutlich mehr Elan besaß. Zum anderen wird die regionale Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnen, weil die derzeitige Hyper-Globalisierung mit ihren weltweiten just-in-time-Lieferketten durch die Corona-Krise an Relevanz verlieren wird. Die Verwundbarkeit dieses Modells wurde aktuell besonders deutlich. Auch hier gilt, dass die Pandemie Entwicklungen beschleunigt, die sich bereits seit längerer Zeit abgezeichnet haben. Denn auch schon vor der Krise war zu erkennen, dass Produktionsprozesse wieder verstärkt in westliche Länder zurückverlegt werden würden – ausgelöst beispielsweise durch steigende Lohnkosten in China und den vermehrten Einsatz von Robotik und Künstlicher Intelligenz in der heimischen Industrie. Bei der Neuausrichtung von transnationalen Lieferketten dürften daher regionale Kooperationen wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen.

Viertens erleben wir durch die Corona-Krise derzeit weltweit einen erheblich beschleunigten Digitalisierungsboom. Es gibt eine rasante Gewöhnung an neue Technologien auch bei Personenkreisen, die diesen Entwicklungen bis vor Kurzem eher kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. Diese Entwicklung wird auch die internationalen Beziehungen beeinflussen. Der Cyberraum wird noch stärker als bisher ein Ort für den Wettstreit der großen Mächte werden.  Diese Entwicklung hat sich bereits im Konflikt um das G5 Netz abgezeichnet. Der technologische Vorsprung in den maßgeblichen und eng miteinander verwobenen digitalen Feldern wie Cyber, Robotik und Künstliche Intelligenz wird eine, wenn nicht sogar die zentrale Ressource im Ringen um globale Führungsansprüche werden. Da durch die COVID-19 Krise jetzt im hohen Tempo gesellschaftliche Bereiche durch-digitalisiert werden, dürften digitale Politik-Phänomene – von großflächigen social media Charme-Offensiven bis hin zu Cyberattacken – in der Zukunft unseren Alltag deutlich häufiger bestimmen als bisher.

Fünftens werden wir nach einer kurzen Flaute bald einen Wiederaufstieg des Populismus erleben. In den Debatten über die Auswirkung von COVID-19 ist häufig die Einschätzung anzutreffen, dass der Virus die Populisten entzaubere. Genährt wird diese Hoffnung durch die Tatsache, dass populistische Parteien in der Corona-Krise an Zuspruch verlieren. Deutlich wird diese Entwicklung beispielsweise mit Blick auf die sinkenden Umfragewerte der AfD. Zudem wird in diesem Zusammenhang häufig darauf verwiesen, dass die von Populisten beeinflussten Regierungen – ob in den USA, Großbritannien, Norditalien oder Brasilien – in der aktuellen Krise oft inkompetent und dilettantisch gehandelt haben. Die Verbreitung von sogenannten alternativen Wahrheiten ist nun mal keine geeignete Strategie im Kampf gegen Viren. Ferner ist jetzt die große Zeit der Expert*innen (vgl. https://www.loccum.de/blog/hoffnungs-expertinnen/) und der wissensbasierten Politikberatung – ein Metier, in dem Populisten besonders ungeübt sind. In der aktuellen Phase der Krise, bei der vor allem die gesundheitliche und medizinische Dimension im Vordergrund steht, wird der Hoffnung, dass der Populismus bald auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, folglich eine ganze Reihe von faktischen Anhaltspunkten geboten. In der kommenden zweiten Phase der Krise, die vor allem durch die wirtschaftlichen Folgen des Virus gekennzeichnet sein wird, dürfte sich diese Einschätzung aber nicht bewahrheiten. Es wäre nämlich sehr verwunderlich, wenn es den Populisten dieser Welt nicht gelingen würde, den sich dann bietenden optimalen Nährboden zu nutzen. Nach der jetzigen Flaute werden wir also ein Wiedererstarken der Populisten erleben. In diesem zweiten und vermutlich deutlich längeren Part der Krise wird es nicht mehr primär darum gehen, sich gegen einen neuartigen Erreger zu behaupten. Vielmehr werden die vielfältigen und sich gegenseitig überlappenden sozio-ökonomischen Verteilungskämpfe die Tagesordnung bestimmen. Den Problemen, denen wir dann gegenüberstehen, werden komplexen Kausalmechanismen unterliegen, die öffentlich schwerer zu vermitteln sein werden als die vergleichsweisen simplen viralen Ansteckungswege und Hygiene-Prozeduren – ideale Voraussetzungen für populistische Stimmungsmache.

Neben diesen fünf Thesen gibt es noch zahlreiche offene Fragen in der Entwicklung der zukünftigen Weltordnung, die aktuell derart im Fluss sind, dass sich keine klare Einschätzung formulieren lässt. Zum Beispiel ist derzeit nicht absehbar, wie die Erfahrung einer umfassenden globalen Krise, die hinsichtlich ihres Ausmaßes für viele aktuelle und zukünftige politische Entscheidungsträger neu und einzigartig ist, insgesamt die prinzipiellen Handlungslogiken des Politischen und grundsätzliche Weltsichten beeinflussen wird. Wird die gemeinsame Krisenerfahrung eher egoistisch-konfrontative oder vielmehr kooperative Verhaltensmuster fördern? Steigt die Risikobereitschaft von politischen Entscheidungsträgern oder ist eher das Gegenteil der Fall? Werden Werte, die derzeit scheinbar große Konjunktur haben, wie Sicherheit, Geborgenheit und Gesundheit auch in Zukunft handlungsleitend sein – beispielsweise für kommende politische Anstrengungen im Rahmen der Klimakrise – oder ist ihre Wirkungsmächtigkeit eher von flüchtiger Natur? Etc.?

In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie als Referent*innen verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.

Dr. Thomas Müller-Färber ist Studienleiter für Internationale Politik & Internationale Beziehungen