
Digitalisierte Psychiatrie. Widerspruch oder Synergie?

Hannover, 31.05.2021 (INE)
Mit den zunehmenden Impfungen der erwachsenen Bevölkerung sind Kinder und Jugendlichen stärker in das Zentrum des Pandemiegeschehens gerückt und müssen auch deshalb im Mittelpunkt zukünftiger Maßnahmen stehen. Kinderrechte und insbesondere das Recht auf Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen müssen möglichst umfassend verwirklicht werden.
Zugleich muss die Gefahr der Ansteckung für diese Gruppe und ihre Kontaktpersonen gering gehalten werden. Für den Infektionsschutz ist die weiterhin konsequente Umsetzung der Schutzkonzepte in den Bildungseinrichtungen und zügige Impfung insbesondere der erwachsenen Kontaktpersonen von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen.
Für die Sicherung der Teilhaberrechte von Kindern und Jugendlichen müssen schnellstmöglichst kompensatorische Maßnahmen ergriffen werden. Diese müssen beispielsweise das flexible Nachholen von verpassten Lerninhalten ermöglichen. Kompensationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche dürfen diese jedoch nicht nur als Schüler*innen adressieren. Verschiedene Studien und Berichte haben die unterschiedlichen negativen Auswirkungen der Pandemie für die psychosoziale und körperliche Entwicklung von Kindern hervorgehoben.
Die durch die Corona-Maßnahmen entstandenen und weiter bestehenden Belastungen von Kindern und Jugendlichen müssen gemildert und ausgeglichen werden. Im Sinne der Teilhabegerechtigkeit sind dabei neben dem Bildungsbereich auch andere Lebensbereiche mitzudenken. Mit Gutscheinprogrammen und kostenlosen Öffnungen sollte Kindern und Jugendlichen in der nächsten Zeit der Zugang zu bestimmten Freizeitaktivitäten und Erlebnissen erleichtert werden. Auch Treffpunkte und andere Anlauf- und Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche müssen in den nächsten Jahren gestärkt werden. Vor allem ist es aber notwendig, die Erfahrungen und Wünsche der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und sie in die Planungen einzubeziehen. Kinder und Jugendliche müssen an Entscheidungen über Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie beteiligt werden.
O-Töne:
„Am Ende der dritten Welle müssen auch Kinder und Jugendliche wieder die Chance auf Teilhabe am sozialen Leben erhalten. Ihnen darf in dieser Situation keinesfalls mehr aufgebürdet werden als Erwachsenen.“
Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Mitglied der Initiative Niedersächsischer Ethikrat, Universitätsmedizin Göttingen
„Die Stadt Hildesheim etwa hat persönlich adressierte Briefe an Kinder versendet. Den Briefen lag ein Gutschein bei, der innerhalb Hildesheims eingelöst werden kann. Auch wenn der Gutscheinwert gering ist, sind solche Gesten wichtig, um den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass ihre besondere Belastung anerkannt wird. Das ist für den Erhalt der Solidarität zwischen den Generationen eine entscheidende Bedingung“.
Prof. Dr. Janna Teltemann, Mitglied der Initiative Niedersächsischer Ethikrat, Universität Hildesheim
Presseanfragen bitte an:
Thomas Spieker
Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) Karl-Wiechert-Allee 18-22 30625 Hannover E-Mail: kommunikation(at)aekn.de Tel.: 0511 3802220
Anne Specht
Forschungsinstitut für Philosophie Hannover Gerberstr. 26 30169 Hannover E-Mail: specht(at)fiph.de Tel.: 0551 1640934
Florian Kühl
Evangelische Akademie Loccum (EAL) Münchehäger Straße 6 31547 Rehburg-Loccum E-Mail: florian.kuehl(at)evlka.de Tel.: 05766 81105
Über die Initiative Niedersächsischer Ethikrat
Die Initiative Niedersächsischer Ethikrat ist ein unabhängiges Gremium von Expert*innen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Die INE sieht ihre Aufgabe darin, aus ethischer Perspektive Fragen und Probleme aufzuzeigen, die sich aus den Folgen der COVID-19-Pandemie für Menschen in Niedersachsen ergeben, sowie Strategien und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Geschäftsführende Organisationen sind die Ärztekammer Niedersachsen, die Evangelische Akademie Loccum und das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Weitere Informationen zur INE finden Sie hier: www.ethikrat-niedersachsen.de
Merkwürdig, beim Durchstreifen einschlägiger Lexikonartikel zu den Stichworten Neid und Missgunst fällt die Ausbeute im Blick auf die evangelische Theologie ausgesprochen mau aus. Was da geschrieben steht, ebbt in der Berichterstattung mit der Aufklärungszeit ab. Danach wird es philosophisch oder römisch-katholisch. Woran liegt das? Gibt es keinen Neid in der evangelischen Kirche? Oder spielt er – auch gesamtgesellschaftlich für sie keine Rolle? Ich fürchte nein. Und ich rege an, dass sich die evangelische Theologie und Kirche diesem Thema beherzt annehmen. Lasst uns für einen Abschied von Missgunst werben, in den eigenen Reihen der Kirche, in der Gesellschaft. Neid vergiftet das soziale Klima.
Was ich damit meine? Es gab gleich zu Beginn der Corona-Impfungen neue Spannungen – über die Organisation der Impfpriorisierungen in den inzwischen allseits bekannten Großgruppen hinaus. Diskutiert wurde bereits, bevor es überhaupt losging, schon im Dezember 2020, ob Menschen, die in Wohnstifts und Pflegeheimen leben und geimpft seien, wieder größere Freiheiten genießen dürften? Das wurde kritisch gesehen, und das nicht nur wegen der Unsicherheit, ob Geimpfte noch ansteckend wirken. Originelle Modelle, geimpften alten Menschen gastronomisch das ein oder andere anzubieten und zu eröffnen, hatten keine Chance sich durchzusetzen oder gar Schule zu machen. Der Ruf: „Gebt geimpften hochaltrigen Menschen mit einer nur noch kurzen Lebensphase Lebensfreiräume zurück, früher als anderen!“ drang nicht durch. Maßgeblich war ein kleinmütiger Begriff von Gerechtigkeit. Ich frage mich: Was ist daran gerecht, wenn es möglichst allen Menschen möglichst gleich miserabel geht? Dann wäre ja auch die Hölle ein Ort größtmöglicher Gerechtigkeit. Auch in der Kirche wurde hitzig diskutiert, ob – und das war mit triftigen medizinischen Gründen gefordert worden – Notfallseelsorger*innen vorrangig und vorzeitig geimpft werden sollten. Ja, wenn wir das machen, hieß es dann, müssen aber gleich alle Pfarrerinnen und Pfarrer geimpft werden, sonst sei das nämlich ungerecht. In Wirklichkeit war Neid unterwegs, Neid auf Menschen, die ein Amt in der Kirche übernommen haben, das sonst nicht gerade als Tätigkeitsmagnet gilt: Notfallseelsorger*in zu sein.
Ich fürchte, dass das weiter geht. Fragen über Fragen, was oder ob Geimpfte anderes und mehr dürfen, ob es wieder Kulturangebote, Konzertangebote, Chöre der Geimpften geben dürfe, die früher als andere Singen? Und ich ahne schon, dass da im Namen der Gerechtigkeit gewarnt wird. Lieber nicht. Denn wieder wird nicht nur Angst und Sorge, sondern auch Neid dabei unterwegs sein. So, wie dieser Tage auch mit der Frage, warum die, die in den Brennpunktquartieren die Zahlen in die Höhe jagen, vorzeitig geimpft werden sollen, um die Inzidenzwerte nach unten zu drücken. Da werden doch diejenigen durch Impfung belohnt, die sich nicht ordentlich verhalten haben, heißt es da. Erstens: Die? Zweitens: Alle? Die meisten können sich nicht aussuchen, in einem Hochhaus mit 1,5qm-Aufzügen beherbergt zu sein. Wieder ist Neid und das Schreckgespenst einer missgünstigen Ungerechtigkeit unterwegs. – Jemand hat etwas, kann etwas, vermag etwas, darf etwas, was ich eigentlich auch könnte, dürfte, meine haben zu sollen. Erreichbares. Das ist die Gestalt des Neids, in die sich alsbald Hass einschleicht.
Ist dagegen ein soziales, ein gar christliches Kraut gewachsen?
Wie ist das eigentlich mit Gott?
Einst waren die Götter neidisch. Die griechischen Megären waren die personifizierte Form der Missgunst. Und die griechischen Dichter Pindar und Aischylos deuteten den Neid der Götter als Korrektur, um der Sterblichen ungetrübtes Glück im Übermaß den Garaus zu machen. Das war aber eben zur Zeiten des antiken Götterhimmels. Und der war ein trostloser Himmel. Trost war der griechischen Götter Sache nicht. Aber eben Neid. Und dieser Neid hatte eine menschliche Entsprechung, der sog. Ostrakismus, das Scherbengericht zu Athen. Im Namen eines gleichmacherischen-demokratischer Neides als Steuerungskraft der Stadtgesellschaft wurden Scherbenberichte abgehalten. Es hat Athen seine Existenz gerettet, dass es alsbald wieder davon Abstand nahm. Denn die Stadt merkte: Neid als politisches Regulativ wirkt schon in einer relativ übersichtlichen Stadtgesellschaft destruktiv. Er wirkt in einer Gesellschaft der Gleichen, die notwendig nicht in jeder Beziehung gleich sein können, zerstörerisch. Demokrit sah das haarscharf: Neid ist Ursache von Bürgerkriegen. Neid ist Kennzeichen von Tyrannen, sagte er. Zentrale Aufgabe des Staates sei, so meinte dann auch Aristoteles, den Neid aus der Polis zu verbannen. Das Schlimme am Neid sei, dass er gar nicht darauf aus sei, in die Vorzüge des anderen zu kommen. Er wolle nur erreichen, dass die andere Person diese Vorzüge auch nicht genießt. Vor allem aber: Niemand, so Aristoteles, beneiden Menschen stärker als die, mit denen sie bekannt sind, die Landsleute.
Das ist brandaktuell. Soll denn im Ernst das Unglück der anderen, die Trostlosigkeit ihrer Lebenslage mir selbst zum Trost gereichen? Gilt es wieder an Friedrich Nietzsche zu erinnern, der gegen das innereuropäische, das soziale Ressentiment in Deutschland anging und schrieb: „Weil ich etwas nicht haben kann, soll alle Welt nichts haben! Soll alle Welt nichts sein!“ Soll also im Ernst der Macht des Virus, dort, wo sie schon gebrochen ist, im Namen der Gerechtigkeit der Vorrang eingeräumt werden?
Nocheinmal: Wie ist das eigentlich mit Gott, mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Abrahams, dem Gott, in dessen Namen sich Jesus von Nazareth aufmachte?
Dieser Gott ist nicht neidisch. Seit Kain und Abel, der wohl mächtigsten Neidgeschichte der Bibel, tritt er gegen den Neid auf den Plan. So einer wie Paulus wusste das: „Neid zerstört, Liebe baut auf“. (Gal 5,21-26). Liebe, so die Einsicht hilft Menschen auf, über ihren Kummer über den Erfolg der Nächsten hinwegzukommen.
Liebe hilft aus der erbärmlichen ethischen und sozialen Lage heraus, in der erst an Grundrechte appelliert werden muss, um nicht länger Schmerz darüber zu empfinden, worüber wir alle uns freuen sollten, über das Gut des Nächsten. Das ist ein starker Hinweis auch für Loccum.
Ich bin neugierig darauf, wie die Evangelische Akademie Loccum in Zukunft in jedem Fall auch ein Ort sein wird, an dem Missgunst beim Namen genannt und Perspektiven der Neidüberwindung durchbuchstabiert werden. So habe ich die Akademie in den vergangenen elf Jahren jedenfalls erlebt: Als einen Ort gesellschaftspolitisch arrangierter und in der Art des Umgangs praktizierter Nächstenliebe. Nächstenliebe einmal ganz weltläufig unaufdringlich. Nächstenliebe macht sich ja nichts vor. Sie schaut hin und sieht – neben den eigenen auch die Abgründe beim anderen. Aber eins kann Nächstenliebe wie kaum eine andere: sich an der Freude der anderen vorbehaltlos zu freuen. Wo immer ich das in den schärfsten Debatten, den bittersten Einblicken in Krisenlagen, bei Aufbrüchen zu neuen Ufern hier in Loccum erlebt habe, wusste ich: Es ist gut hier zu sein. Mit Dankbarkeit, reich beschenkt mit neuen Perspektiven, so vielen kostbaren Begegnungen bis in die tiefe Nacht hinein, mit meinem großen Dank also an alle, die während der Jahre hier aus und eingegangen sind, mitgefiebert haben, mitgestaltet haben, mache ich mich auf den Weg nach Lüneburg. Gott befohlen, liebe Evangelische Akademie Loccum!
In unserem Corona Blog schildern Studienleiter*innen der Akademie und der Akademie verbundene Persönlichkeiten ihre Wahrnehmungen zur Coronakrise. Aus den verschiedenen interdisziplinären Arbeitsbereichen entsteht damit eine multiperspektivische Sicht, die in der Krise Orientierung bieten kann. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Akademie ihre Arbeit auf diese Ausnahmesituation anpasst.
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